NEUE ALLGEMEINE GESUNDHEITSZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND / AUSGABE MÄRZ 2008

Rabattvertragschaos: Krankenkassen greifen Apotheken an 04.03.2008 15:00 Uhr

Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland thematisiert in der aktuellen Ausgabe neben vielen interessanten Gesundheitsthemen noch einmal die Folgen der Rabattverträge zwischen
Krankenkassen und Herstellern, die in den Apotheken oftmals chaotische Lieferzustände herbeiführten.
Die Rabattverträge sorgten und sorgen deshalb für massives Chaos in Apotheken, weil viele Patienten von ihren gewohnten Arzneimitteln auf Präparate von anderen Herstellern umsteigen müssen. Eine
repräsentative Studie deckte jüngst die damit verbundenen gesundheitlichen und emotionalen Probleme der Patienten auf: Mangelnde Akzeptanz und große Verunsicherung.
Desungeachtet greifen Krankenkassen wie die Barmer Ersatzkasse, die Deutsche BKK und die DAK die Apotheken an, die im Vertragschaos nicht immer das Rabattarzneimittel, sondern ein anderes Generikum abgegeben haben. Ihnen drohen jetzt Null-Retaxationen.

Die "Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland" erscheint monatlich mit einer Auflage von einer Million Exemplaren und ist kostenlos in Apotheken erhältlich. Alle Artikel sind online auch unter
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APOTHEKEN SOLLEN BLUTEN FÜR PATIENTENFREUNDLICHKEIT

Die Apotheken in Deutschland versorgen die Bevölkerung mit Arzneimitteln. Das ist ihr gesetzlicher Auftrag. Und zwar an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr. Selbst wenn der letzte Drogeriemarkt schon
geschlossen hat, sind die Apotheken in einem lückenlosen Notdienstsystem für ihre Patienten da. Und wer mitten in der Nacht diese Leistung in Anspruch nimmt, bekommt nicht nur ein Fiebermittel
in die Hand gedrückt, sondern auch die Beratung eines hervorragend ausgebildeten Menschen: einer Apothekerin oder eines Apothekers. Denn Krankheit kennt keinen Feierabend.

Aber seit Jahren wird diese Leistung, die Patienten eine sichere und unmittelbare Versorgung mit Arzneimitteln garantiert und vor Arzneimittelfälschungen schützt, zunehmend untergraben. Der
Arzneimittelsektor droht zur Ramschplattform zu verkommen, denn angesichts gesundheitspolitischer Fehlentscheidungen wird die "Geiz-ist-geil-Mentalität" sogar auf Tabletten, Pillen und Zäpfchen
übertragen; auf hochwertige und lebensnotwendige Produkte, die die Gesundheit wieder herstellen, aber gleichzeitig - bei falscher Anwendung - auch Schaden anrichten können.

Animiert von unsinnigen Gesetzen versuchen Krankenkassen Billigpreise durchzusetzen. Und so ist es kein Wunder, dass die meisten Kassen das Wohl ihrer Patienten zunehmend wirtschaftlichen Interessen opfern. Das klappt nicht immer reibungslos, ein Schuldiger muss her. Mal schimpft man auf die Krankenhäuser, mal auf die Ärzte, selten auf die Gesundheitspolitik. Ob BARMER, ob Deutsche BKK, ob DAK - der Bannstrahl der Schuldzuweisungen trifft zurzeit die Apotheken. Und das für Missstände, die von den Krankenkassen selbst verursacht wurden.

Seit der vorletzten Gesundheitsreform haben Krankenkassen die Möglichkeit, Rabattverträge mit Arzneimittelherstellern zu vereinbaren. Das bedeutet, ein Hersteller verspricht einer Krankenkasse einen Rabatt auf einige seiner Arzneimittel. Will die Krankenkasse diesen Rabatt in Anspruch nehmen, muss sie dafür sorgen, dass die Patienten genau diese Rabatt-Medikamente auch bekommen. Deshalb sind die Apotheken verpflichtet, bis auf wenige Ausnahmen, kein anderes Arzneimittel abzugeben. Und so erhalten Patienten plötzlich nicht mehr das gewohnte, schon lange vom Arzt verordnete Präparat, sondern ein Austauschpräparat von einem anderen Hersteller.

Welche Folgen das für Patienten hat - vor allem für ältere Menschen und chronisch Kranke, die täglich viele Medikamente benötigen - verdeutlicht eine aktuelle, repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts GfK. Im Auftrag des NAV-Virchow-Bundes in Berlin wurde die Einstellung der Patienten zum von den Krankenkassen verursachten Pillenchaos ermittelt. Die Ergebnisse sind alarmierend:
Für jeden zweiten Befragten brachte die medikamentöse Umstellung Probleme mit sich. Jeder vierte Patient äußerte, dass das neue Präparat ungewohnt war und jeder siebte Kranke beklagte sogar
Unverträglichkeiten oder Nebenwirkungen. Zwar wird von Krankenkassen immer wieder betont, ein Präparat sei wie das andere, doch jeder Fachmann weiß um die Probleme der Bioverfügbarkeit. Mag auch der Wirkstoff identisch und dessen Dosierung exakt dieselbe sein wie beim gewohnten Präparat - andere Hilfsstoffe in der Tablette können durchaus zu Unverträglichkeiten führen und auch die Wirkung des Medikaments kann auf sich warten lassen: es ist die von Produkt zu Produkt unterschiedliche Verteilung der Wirkstoffe innerhalb der Tablette, die die Freisetzung und damit die Wirksamkeit verzögern oder beschleunigen kann.

Die Schlussfolgerung des NAV-Virchow-Bundes und der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten (DGVP) ist unmissverständlich: 87 Prozent der Patienten lehnen den wachsenden Einfluss der Krankenkassen auf die Verschreibungen ab.

Dass sage und schreibe jeder sechste Patient der Umfrage von dem neuen Medikament nach wie vor nicht überzeugt ist - interessiert das die Krankenkassen? Immer wieder betonen sie, dass der Patient letztlich profitiere, da mit den Rabattverträgen Einsparungen in Millionenhöhe möglich seien. Mögliche Zwischenfälle durch nicht oder falsch eingenommene Arzneimittel und die dadurch entstehenden zusätzlichen Kosten werden in den Hochrechnungen freilich nicht berücksichtigt. Auch die massiv gesteigerte Bürokratie bleibt außen vor. Und von Beitragssenkungen wird schon lange nicht mehr geredet.

Haben Apotheken dennoch das gewohnte Arzneimittel an ihre über die neue Situation aufgebrachten Patienten abgegeben, z. B. weil der von der Kasse ausgewählte Arzneimittelhersteller gar nicht ausreichend lieferfähig war, so werden sie heute für ihre patientenfreundliche Einstellung bestraft. Deutsche BKK, BARMER und DAK drohen den Apotheken mit der so genannten "Null-Retaxation". Das bedeutet, die Kasse bezahlt das Arzneimittel einfach nicht. Die Apotheke bleibt auf den Kosten für das abgegebene Präparat sitzen. "Wir wissen, dass die Rabattverträge funktionieren. Das beweisen uns die engagierten Apotheker, die zu 80 bis 90 Prozent preisgünstige Generika abgeben.
Wir dulden keine Verweigerer. Das Gesetz ist in Kraft. Und wer es systematisch unterläuft, muss mit Regress rechnen", lautet das herrisch anmutende Statement des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen
BKK, Ralf Sjuts. Dass die öffentlichen Apotheken für die Deutsche BKK ohnehin nur Lückenbüßer sind, geht aus dem Online-Auftritt hervor. Dort wirbt die Kasse bei ihren Mitgliedern schon auf der Startseite
aktiv für zwei Internetapotheken.

Die zusätzlichen, unbezahlten Leistungen der Apotheken finden in den Anfeindungen keinerlei Erwähnung. Dazu zählt der deutlich erhöhte bürokratische Aufwand ebenso wie die Installation von
Computerprogrammen, die es ermöglichen sollen, das Vertragschaos der verschiedenen Kassen halbwegs zu überblicken. Auch die geduldige Aufklärung der Patienten über die Folgen der unsinnigen Rabattverträge - eigentlich Aufgabe der Krankenkassen - gehört zum aufgezwungenen Dienstleistungspaket. Persönlichen Service, wie die Zustellung nach Hause, honorieren die Kassen natürlich ebenfalls nicht. Und das, obwohl das Lieferchaos bei den Rabatt-Arzneimitteln diesen Service in den vergangenen Monaten immer wieder nötig machte.
Und nicht zuletzt: Wie oft mussten die Mitarbeiter in den Apotheken als Blitzableiter für aufgebrachte oder enttäuschte Patienten herhalten?

Die Apotheken haben den Krankenkassen mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Auch kürzlich wieder im Hilfsmittelchaos. Dafür sollten die Kassen sich großzügig zeigen, haben die Apotheker doch guten Glaubens in dem von den Versicherungen angerichteten Rabattchaos zum Wohle des Patienten gehandelt. Aber Großzügigkeit ist wohl kein ökonomischer Tatbestand.


ARMER BARMER-PATIENT
Ein Kommentar der Redaktion

Es war einmal eine renommierte Krankenkasse. Die hieß BARMER ERSATZKASSE. Die war immer für ihre Versicherten da. Deshalb traten immer mehr Menschen in die BARMER ein. Und weil die Menschen ihr vertrauten, wurde sie eine der größten Krankenkassen Deutschlands. Auch die Apotheken glaubten, in ihr einen fairen Partner gefunden zu haben. Deshalb schlossen sie mit ihr den "Hausapotheken-Vertrag". Und alle waren glücklich und zufrieden.
Das ging solange gut, bis eine unweise Regierung ein neues Gesetz erließ. Das erlaubte den Krankenkassen, wie richtige Wirtschaftsunternehmen Ausschreibungen für Arzneien und Hilfsmittel zu
machen. Auch die BARMER wollte ein richtiges Wirtschaftsunternehmen sein. Aber sie vergaß, dass richtige Wirtschaftsunternehmen von der Begeisterung ihrer Kunden leben. Stattdessen beschloss sie,
"Vorreiter" in Deutschland zu werden in der "zentralen Hilfsmittelversorgung". Oh, die anderen Krankenkassen würden schon Augen machen. Sie würde es ihnen allen zeigen, und bald würden sie der BARMER nacheifern. Und so befahl die BARMER ihren Mannen, eine bundesweite Ausschreibung über die Inkontinenz-Versorgung ihrer Versicherten zu machen. Gesagt - getan.
Aber noch eines hatte die BARMER in ihrer schönen neuen Ausschreibungswelt vergessen: ihre Versicherten. Viele Inkontinenz-Patienten waren sauer und traurig und frustriert und hilflos. Sie fanden es empörend, dass die BARMER ohne ihre Zustimmung ihre intimsten Daten an irgendwelche Unternehmen weitergab, die eine Ausschreibung gewonnen hatten. Und sie verstanden ihre BARMER nicht mehr. Denn sie waren sehr zufrieden mit ihrer Apotheke, die bisher immer für sie da war.

Aber die BARMER focht das nicht an. Sie fand alles halb so schlimm und dachte bei sich: Wäre ja noch schöner, wenn man die Interessen und Gefühle der Patienten ernst nehmen müsste. Und so ließ sie den Hochmut nicht sinken.

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