NEUE ALLGEMEINE GESUNDHEITSZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND / AUSGABE DEZEMBER 2011

NOVITAS BKK, BKK Hoesch, BKK vor Ort: die Geisterfahrer 02.12.2011 10:18 Uhr

Mit der miserablen Zahlungsmoral der oben genannten Betriebskrankenkassen gegenüber zahlreichen Apotheken und ihren Gründen, mit denen sich Politik und Bundesaufsichtsamt dringend beschäftigen sollten, setzt sich die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland auch in der Ausgabe Dezember auseinander. Nachdem die NOVITAS BKK bereits im Oktober damit begonnen hatte, den Apotheken aufgrund von zumeist marginalen „Formfehlern“ der verschreibenden Ärzte auf den Rezepten die Zahlung von teuren Betäubungsmitteln für Schmerzpatienten zu verweigern, obwohl die Versicherten die Arzneimittel erhalten haben, gibt es jetzt Nachahmer. Auch die BKK vor Ort und die BKK Hoesch verweigern zahlreichen Apotheken wegen zumeist kleinerer formaler Fehler auf den Rezepten die Bezahlung von erbrachten Leistungen. Dass dies auf dem Rücken der versicherten Patienten geschieht, scheint diese Kassen nicht zu interessieren. Unseriös, unanständig, unverschämt – was treibt Kassen zu einem solchen Verhalten?

Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung erscheint monatlich deutschlandweit mit einer Auflage von 1 Million Exemplaren und ist für Endverbraucher kostenlos in Apotheken erhältlich.



RETTET DIE KRANKENKASSEN

Über-, Unter- und Fehlfinanzierung der Kassen treibt seltsame Blüten

NOVITAS BKK, BKK vor Ort, BKK HOESCH, BKK Gesundheit West, BKK Gildemeister – Betriebskrankenkassen haben es offensichtlich schwer. Hätten diese Kassen es sonst nötig, Rezepte nicht zu bezahlen?

Rezepte für Schmerzmittel zum Beispiel, die Patienten von den Apotheken ordnungsgemäß erhalten haben? Genau dies passiert aber. Wegen formaler, meist kleiner Fehler der verschreibenden Ärzte auf den Rezepten, wie es offiziell heißt, zahlen die Kassen nicht. Tausende Rezepte sind es inzwischen. Die Apotheken bleiben auf den hohen Kosten sitzen.

Steht es so schlecht um diese Krankenkassen? Hoffentlich nicht. Allerdings ist die Pleite einer zweiten Betriebskrankenkasse zum Jahresende schon sicher. Zum 1. Juli 2011 war die CITY BKK am Ende. Zehntausende Versicherte irrten damals umher, bis sie eine neue Kasse fanden. Zum 31.12.2011 muss die BKK für Heilberufe dichtmachen. Und wieder müssen mehr als hunderttausend Mitglieder eine neue Heimat unter den gesetzlichen Kassen suchen. Allerdings wird es wohl diesmal gesitteter zugehen. Ablehnungen von Versicherten durch aufnehmende Kassen, wie im Falle der City BKK, soll es nicht mehr geben. Schließlich hat der Gesundheitsminister den Chefs der Krankenkassen Strafen angedroht, wenn sie Beitrittswillige ablehnen.


Dass es soweit kommen musste, ist nicht zuletzt Schuld der Gesundheitspolitik selbst. Gegen den Rat vieler Experten, gegen vehemente Kritik der Medien und gegen die ablehnende Meinung der Öffentlichkeit setzte die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zum 1. Januar 2009 den „Gesundheitsfonds“ in die Welt. In diesem Fonds werden seitdem monatlich die Beiträge der Versicherten aller gesetzlichen Krankenkassen – mit Ausnahme der Landwirtschaftlichen Krankenversicherung – und die staatlichen Steuerzuschüsse gesammelt. Betreut wird der Fonds vom Bundesversicherungsamt.

Über 170 Milliarden Euro kommen so pro Jahr zusammen. Die werden mehr oder weniger an die Kassen verteilt – meist weniger. Milliarden werden auch gehortet. Für schlechte Zeiten. Ende 2011 werden es knapp sieben Milliarden sein. Früher wären diese Beiträge den Versicherten zugute gekommen. Jetzt werden sie den Kassen vorenthalten.

Machtpolitisch war die Einführung des Gesundheitsfonds ein genialer Schachzug der Ministerin. Die FDP lief zwar seinerzeit Sturm gegen das „bürokratische Monster“, wie der heutige Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) den Gesundheitsfonds damals zu Recht nannte, doch das half nichts. Und heute traut sich keiner mehr, dem Monster den Garaus zu machen. Dazu ist es zu groß und zu dick und zu mächtig. Allerdings auch zu unbeweglich. Und das ist das Problem.


„Durch den Gesundheitsfonds können die Krankenkassen ihre Aufgaben ohne Finanzsorgen erfüllen“. Das sagte die damalige Gesundheitsministerin im April 2009 im „Magazin für Soziales, Familie und Bildung“, einem Informationsblatt der Bundesregierung. Doch genau dies klappt hinten und vorne nicht.

Bestes Beispiel: das Ende der BKK für Heilberufe. Am 01.04.1993 wurde die Betriebskrankenkasse gegründet. Wie sie auf ihrer Website schreibt, betreute sie in ihren besten Tagen 650 000 Versicherte. 2003 geriet die Kasse in finanzielle Schwierigkeiten. Gerettet wurde sie mit Hilfe des BKK-Systems und eines kostendeckenden Beitragssatzes. Den durften die Kassen bis Ende 2008 noch selbständig festsetzen. Dadurch konnte sich auch die BKK für Heilberufe erholen.


Doch 2009 kam die Wende. Seit der Einführung des Gesundheitsfonds in diesem Jahr gilt für alle gesetzlichen Krankenkassen nur noch ein einheitlicher Beitragssatz. Hat eine Kasse finanzielle Probleme, muss sie von ihren Versicherten einen „Zusatzbeitrag“ erheben. Bis Ende 2010 waren dies maximal acht Euro je Monat und Mitglied oder 1 Prozent seines Einkommens. Die Obergrenzen sind zwar ab 2011 entfallen, doch nutzt dies der BKK für Heilberufe auch nicht mehr. Denn seit sie von ihren Versicherten einen Zusatzbeitrag fordert, laufen ihr die Mitglieder in Scharen davon. Übrig bleiben die Alten und Kranken. Natürlich verschärft dies die finanziellen Probleme der Kasse noch.

Die agilen Mitglieder wandern ab zu gesetzlichen Krankenkassen, zumeist den großen, die diesen Zusatzbeitrag nicht erheben. „Wettbewerb“ nennt das die Politik. Dabei führt diese Form von Wettbewerb zu nichts anderem als zur zwangsweisen Reduzierung der Zahl der Kassen, insbesondere der kleineren wie der Betriebskrankenkassen. Nicht ohne Grund sind acht von zehn Kassen, die zurzeit einen Zusatzbeitrag erheben, Betriebskrankenkassen. Interessant: Die BKK Hoesch, die auch zu den „Zahlungsverweigerern“ für Rezepte gehört, erhebt aktuell einen Spitzen-Zusatzbeitrag: 15 Euro.


Allerdings: Schuld an den finanziellen Problemen der Kassen ist in erster Linie der Gesundheitsfonds. Monatlich schüttet er das ganze Jahr über gleichbleibende Abschläge an die einzelnen Kassen aus. Eine Grundlage für die Höhe der Zuteilung ist dabei auch die Häufigkeit bestimmter festgelegter Krankheitsbilder in der einzelnen Kasse. Das aber kann nie genau sein. Auch sind „Durchschnittskosten“ pro Krankheitsbild kein guter Gradmesser. Denn Krankheiten lassen sich nicht planen, weder ihr Auftreten, noch ihre Dauer, noch die Schwere des Verlaufs. Also müsste aufgrund sich ändernder Bedingungen während des Jahres „nachjustiert“ werden. Genau dies aber lehnt die Gesundheitspolitik ab. Obwohl ein Gutachten dringend dazu rät.


Insofern kann eine Kasse, die bei einer relativ geringen Mitgliederzahl eine ungünstige Versichertenstruktur aufweist, im Laufe eines Jahres mit den gleichbleibenden Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds kaum alle Kosten decken. Gehör bei der Politik findet sie auch nicht. Ihr bleibt nur der Weg in die ungeliebten „Zusatzbeiträge“, die ihre Mitglieder anderen Kassen in die Arme treiben, in eine Fusion oder letztendlich in die Schließung.

Doch Hut ab vor einer Kasse, die dann wirklich konsequent ihre Schließung betreibt, wenn sie von dem unbeweglichen Monster Gesundheitsfonds nicht die Mittel bekommt, die sie für die Versorgung ihrer Kranken dringend benötigt.

Und Daumen runter für die Kassen, die stattdessen versuchen, ihre strukturellen und finanziellen Probleme zu Lasten anderer Leistungserbringer im Gesundheitswesen zu lösen.



STOPPT DENN KEINER DIE GEISTERFAHRER?

Ein Kommentar der Redaktion

Normann Schuster ist Geschäftsführer. Sein Arbeitgeber ist heute die PROTAXplus GmbH & Co KG in Essen. Das ist das Apothekenabrechnungszentrum des Landesverbandes Nordwest der Betriebskrankenkassen. Von denen brauchen einige jetzt offensichtlich Geld. Schuster zeigt ihnen, wie man das macht. Man bezahlt den Apotheken einfach Rezepte nicht, die kleine Formfehler haben.

Früher war Jurist Schuster Leiter der Abteilung Vertragswesen beim Apothekerverband Nordrhein. Da war er für die Apotheken um Ausgleich mit den Kassen bemüht. Jetzt profiliert er sich auf Kosten eben dieser Apotheken. Und auf Kosten der Patienten. Die müssen darunter leiden.

NOVITAS BKK und Co. scheint das egal zu sein. Stoppt denn keiner aus dem Kreis der vernünftigen BKKs die Geisterfahrer?