Lebensgefahr: Internet ebnet Weg für Arzneimittelfälschungen 11.01.2010 12:00 Uhr
Anfang Dezember vergangenen Jahres versorgte Günter Verheugen, Vizepräsident der Europäischen Kommission, die Medien mit schockierenden Zahlen zu Arzneimittelfälschungen in Europa: In nur zwei Monaten hat der Zoll 34 Millionen gefälschte und über das Internet vertriebene Tabletten beschlagnahmt. Bei etwa acht Millionen davon handelte es sich um Fälschungen von Arzneimitteln gegen schwere Krankheiten.
Im Leitartikel der Januarausgabe greift die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland das Thema auf, informiert über die Hintergründe und stellt die Politik in die Verantwortung.
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Gefährliche Arzneimittelbestellungen im Internet
Medikamentenfälschung ist „versuchter Massenmord“
Würde man alle von gewissenlosen Verbrechern gefälschten Tabletten, die in den Ländern der Europäischen Union innerhalb von nur zwei Monaten bei gezielten Kontrollen von den Zollbehörden beschlagnahmt wurden, aneinanderreihen, würde sich das Pillenband mehr als 4 x um die ganze Erde winden. 34 Millionen (!) gefälschte Tabletten hat der Zoll alleine in diesem kurzen Zeitraum aus dem Verkehr gezogen. Diese Information gab der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Günter Verheugen, zuständiger Kommissar für Unternehmen und Industrie, im Dezember 2009 der Tageszeitung „Die Welt“.
Harte Worte fand Kommissar Verheugen, dessen Amtszeit nach zehnjähriger Tätigkeit für die EU im vergangenen Monat endete, für die Dramatik dieser Entwicklung: Jede Fälschung von Arzneimitteln sei „versuchter Massenmord“ und damit ein „Kapitalverbrechen“.
Ähnlich bedrohlich findet auch Monique Goyens vom Europäischen Verbraucherverband „beuc“ die rasant steigende Zahl von Arzneimittelfälschungen. In der Sendung „MDR aktuell“ vom 7.12. sagte sie: „Diese Medikamente sind gefährlich. Im besten Fall sind sie wirkungslos, im schlimmsten Falle tödlich“.
Dass die Europäische Union zutiefst beunruhigt ist und sie die Fälschungen von Arzneimitteln bereits mit der großen Krise um Lebensmittel und Futtermittel in den 90er Jahren vergleicht, hat seinen Grund. Wurden bisher vorwiegend sogenannte „Lifestyle-Medikamente“, wie Schlankheitsmittel und Potenzpillen, gefälscht, so wird jetzt von Tag zu Tag deutlicher, dass nun auch gefälschte Arzneimittel gegen schwere Krankheiten in großem Umfang via Internet und Versandapotheken zum Patienten gelangen: Antibiotika, Arzneimittel gegen Bluthochdruck und Malaria, Cholesterinsenker und Schmerzmittel gehören dazu, selbst vor gefälschten Medikamenten gegen Krebs machen die Verbrecher nicht Halt. Vertrieben werden die lebensgefährlichen Produkte von Internetapotheken in aller Welt, oftmals ohne Rezept.
Wie groß dieser Anteil an den Arzneimittel-Fälschungen inzwischen geworden ist, zeigen genauere Zahlen, die von der EU veröffentlicht wurden: Danach entfällt auf „Lifestyle-Medikamente“ ein Anteil von 47 %, Anabolika - wegen ihrer für Sportler gefährlichen Anwendung vorwiegend (und sich damit der Kontrolle entziehend) im Internet bestellt - sind zu 16 % beteiligt, Nahrungsergänzungsmittel kommen auf einen Anteil von 13 %, doch bereits 23 % entfallen auf Arzneimittel gegen lebensbedrohliche Erkrankungen. Mit anderen Worten - die Zollbehörden in den Ländern der EU sorgten mit ihrer Aktion dafür, dass knapp 8 Millionen gefälschte Tabletten gegen schwere Krankheiten in diesen beiden Monaten ihre Bestimmungsorte nicht erreichten. Die Patienten konnten sie nicht einnehmen - vielleicht rettete dies ihr Leben. Nur das Geld war verloren.
Schon am 4. August 2009 hatte das ARD-Magazin „Plusminus“ sich des Themas „Arzneimittelfälschungen“ angenommen und konkret bestimmten Arzneimitteln auf ihrem verschlungenen Weg vom Fälschungslabor zum Patienten und Verbraucher nachgespürt. „Fosamax“, ein Medikament gegen Osteoporose, war ein solches Arzneimittel. In größerem Umfang wurde es von den Zollbehörden beschlagnahmt und als Fälschung entlarvt. Dass China sich als Herstellungsland entpuppte, war nicht weiter verwunderlich, gilt das Reich der Mitte doch, wie Indien, als Hochburg für Arzneimittelfälschungen. Über Hongkong und Dubai gelangten die gefälschten Packungen zunächst nach Großbritannien und von dort auf die Bahamas. In ein Land der Europäischen Union - ausgerechnet wieder nach Großbritannien - wurden sie schließlich von Kanada aus über eine Internetversandapotheke geschickt. Ein besseres Beispiel für die „Globalisierung des Verbrechens“ sei kaum vorstellbar, war das Fazit der Sendung.
Nicht nur die Europäische Union ist aufs höchste alarmiert über die dramatisch steigenden Mengen gefälschter Arzneimittelpackungen, auch die Weltgesundheitsorganisation WHO beobachtet die Entwicklung mit großer Sorge. So wies Sabine Kopp von der WHO in Genf in dem gleichen ARD-Beitrag darauf hin, dass Versandapotheken im Internet auch gefälschtes Tamiflu anbieten. Tamiflu ist ein hochwirksames Arzneimittel gegen alle Formen des Influenza-Virus, zuletzt wurde es erfolgreich gegen die Schweinegrippe eingesetzt. Doch Tamiflu, im Internet bei dubiosen Versandapotheken bestellt, enthält laut WHO zumeist keinerlei Wirkstoff gegen die gefährlichen Grippeviren, bietet demnach keinen Schutz und gefährdet so das Leben des leichtgläubigen Patienten, der glaubt, mit seiner Tamiflu-Bestellung bei einer Internet-Apotheke ein paar Euro sparen zu können.
Dass die renommierte „Ärzte-Zeitung“ sich in ihrer Ausgabe vom 7.12. über EU-Kommissar Verheugen mokierte, er schlage am Ende seiner Dienstzeit „mit alten Daten“ Alarm, um sich als „Anwalt der Patienten“ noch einmal positiv ins Gespräch zu bringen, ist nur schwer nach-zuvollziehen. Schließlich müssen auch die Ärzte ein hohes Interesse daran haben, dass Arzneimittelfälschungen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden, sind es doch ihre Patienten, deren Leben vielleicht in Gefahr ist. Allerdings leugnet auch die „Ärzte-Zeitung“ nicht die Zunahme der Fälschungen. Und sie listet die Risiken im illegalen Internet-Handel mit Arzneimitteln auf: „Arzneien ohne Wirkstoffe, unzureichende Dosierung, Überdosierung, Verunreinigungen“.
Das Thema bleibt auf der Tagesordnung. Im Radioprogramm von Bayern 5 nahm am 12.12.2009 Dr. Axel Thiele vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu den dramatischen Zahlen der Europäischen Union über Arzneimittelfälschungen Stellung: „Gefälscht wird alles, was Geld bringt“. Auch er zeigte sich besorgt über die Tatsache, dass zunehmend Medikamente gegen schwere Krankheiten, selbst gegen Aids, gefälscht werden. Die Bekämpfung falle schwer. Hauptpunkt sei der Internethandel.
Ist der Verbraucher also den gewissenlosen Fälschern im Internet hilflos ausgeliefert? Nicht ganz. Natürlich hatte die frühere Bundesregierung nicht die Kraft, den Einkauf von Medikamenten im Internet - gerade erst gegen den Rat aller namhaften Experten gesetzlich erlaubt - wieder zu verbieten. Aber immerhin hat sie versucht, eine Lösung zu finden, die den Einkauf im Internet möglich machen soll, ohne dass der Patient um Leib und Leben fürchten muss: Sie hat ein Siegel entworfen, dass alle legal in Deutschland arbeitenden Versandapotheken auf ihrer Website führen dürfen. Ein kleiner Button signalisiert: Hier handelt es sich um eine lizensierte Internetapotheke. Doch selbst Dr. Thiele vom BfArM gibt zu, dass die Prüfung äußerst schwierig sei. Inzwischen hätten dubiose ausländische Versandapotheken perfekte deutsche Webseiten eingerichtet, die von seriösen nicht zu unterscheiden seien. Wer Arzneimittel fälscht, hat sicher auch Möglichkeiten, eine Website zu fälschen und das Siegel noch gleich dazu. Schließlich geht es um viel und leicht verdientes Geld.
Die Europäische Kommission weiß um die Dringlichkeit, das wachsende Problem schnell und nachhaltig zu lösen - und das aus gutem Grund, hat sie doch errechnet, dass bis zum Jahre 2020 alleine Kosten in Höhe von bis zu 116 Mrd. Euro für die europäische Gesellschaft entstehen würden, wenn die Kommission keine Initiative zur Eindämmung der Arzneimittelfälschungen ergreift. Schon im Dezember 2008 veröffentlichte die Kommission eine Presseerklärung, in der sie die möglichen Ansatzpunkte auflistete: Neben strengeren Kontrollen aller Beteiligten der Lieferkette - Vorlieferanten, Hersteller, Großhändler - und allgemein gültiger Prüfstandards ist es insbesondere die Schaffung eines Sicherheitssystems - Produktcode und Siegel auf jeder Packung -, das die lückenlose Verfolgung des Weges eines Medikaments vom Hersteller zum Endverbraucher möglich machen soll.
Zwar unterstützen die Apotheker in Deutschland die Pläne der Europäischen Kommission, doch gehen sie ihnen nicht weit genug. Heinz-Günter Wolf, Präsident der ABDA - Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, fordert laut einer Presseerklärung der ABDA denn auch, das Übel an der Wurzel anzupacken: „Illegale Internetapotheken sind ein unkontrollierbares Einfallstor für Arzneimittelfälschungen“, sagt er. Die Politik in Brüssel und in Berlin müsse diesem Treiben ein Ende machen. Wolf fordert nichts weniger von der Bundesregierung, als den Versand von rezeptpflichtigen Arzneimitteln in Deutschland zu verbieten.
Auch Dr. Peter Homann, Vorsitzender des Hessischen Apothekerverbandes, fordert von der Regierung ein generelles Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. In einer Presseerklärung des Verbandes weist er darauf hin, dass Verbraucher sich sogar strafbar machen, wenn sie rezeptpflichtige Arzneimittel ohne Vorlage eines Rezeptes bei einer ausländischen Versandapotheke bestellen. Dass diese Verbraucher dann auch noch unkritisch die ihnen zugesandten Arzneimittel schlucken, obwohl Beipackzettel und Verpackung fehlen, sei besonders erschreckend. „Russisches Roulette“ spielten sie mit ihrer Gesundheit, so Homann.
Genau diese Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Internet-Besteller, die Seriosität der vielen preislich konkurrierenden Versandapotheken permanent exakt zu prüfen, ist das Problem. Aber der Staat hat seiner Pflicht, Schaden von seinen Bürgern abzuwenden, auch hier nachzukommen. Er muss den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verbieten.
Beim Rauchverbot ging es ja auch.
FDP im Dilemma
Ein Kommentar der Redaktion
Jede Partei hat Prinzipien. Das ist gut so. Der Wähler muss sie schließlich auseinanderhalten können. Die FDP hat sich die Liberalisierung der Wirtschaft auf die Fahne geschrieben. Aber um welchen Preis? Wirtschaftsminister Brüderle (FDP) hat es bei der unerträglichen Diskussion um ein Verbot der „Pick-up-Stellen“ - dabei handelt es sich um Arzneimittel-Abgabestellen außerhalb von Apotheken, z. B. in Drogeriemärkten - angedeutet. Er ist für ein Verbot dieser Pick-up-Stellen. Das ist lobenswert. Dennoch kann er sich eine weitergehende Liberalisierung gut vorstellen, „nur nicht überstürzt“. Als wenn es darum ginge! Es geht um nichts weniger als die Sicherheit der Bevölkerung vor lebensgefährlichen Arzneimittelfälschungen. Es geht um nichts weniger als ein totales Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln.
Das FDP-geführte Gesundheitsministerium wird seine liebe Not haben, die Gesundheit der Bürger vor Liberalisierungsprinzipien der FDP zu schützen. Gesundheitsminister Rösler muss Zähne zeigen.
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