Diabetiker-Versorgung: Langzeitfolgen werden ignoriert 07.06.2011 11:09 Uhr
In der Ausgabe Juni thematisiert die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland die aktuellen Leistungskürzungen für Typ-2-Diabetiker.
Jüngst entschied der Gemeinsame Bundesausschuss, dass die Krankenkassen Typ-2-Diabetikern, die nicht insulinpflichtig sind, Harn- und Blutzuckerteststreifen nicht mehr erstatten dürfen. Und das ohne ausreichende Untersuchungen über mögliche Langzeitfolgen.
Die von Diabetikerverbänden zu Recht geäußerte Kritik an dieser Entscheidung blieb ungehört.
Im Leitartikel greift die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland das Thema auf und erläutert, warum auch diese Entscheidung ein Paradebeispiel für kurzsichtiges Handeln im Gesundheitswesen ist: Ohne Rücksicht auf persönliche Folgen für den Einzelnen und finanzielle Folgen für das Gesundheitssystem.
Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland erscheint monatlich deutschlandweit mit einer Auflage von 1 Million Exemplaren und ist kostenlos in Apotheken erhältlich.
IM STICH GELASSEN? DIABETIKER OHNE LOBBY
Wie kurzsichtige Entscheidungen die Gesundheit von Diabetikern gefährden
Die Zahl der an Diabetes mellitus erkrankten Menschen ist erschlagend. Allein in Europa sind mehr als 50 Millionen Menschen betroffen. In Deutschland sind es etwa 7,5 Millionen Diabetiker, Tendenz steigend. Rund 90 Prozent davon leiden unter Diabetes mellitus Typ 2, früher auch "Altersdiabetes" genannt. Vor einigen Wochen beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss, dass nicht insulinpflichtigen Typ-2-Diabetikern Blutzuckerteststreifen zur Selbstkontrolle künftig nicht mehr von den Gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Das erspart den Gesetzlichen Kassen zwar Ausgaben von mehreren hundert Millionen Euro, doch viele Diabetiker sind empört und verunsichert.
Mögliche Folgen des Absetzens der Selbstkontrolle sind Probleme bei der Blutzuckereinstellung: Mittel- und langfristig drohen Erkrankungen, die nicht nur für den Betroffenen dramatisch sind, sondern letzten Endes sogar die Gesundheitskosten in die Höhe treiben.
Bei einer Anpassung des Lebensstils und einer stabilen Blutzuckereinstellung sind die Chancen für ein gesundes Leben für Diabetiker groß. Voraussetzung dafür ist jedoch eine optimale medizinische Versorgung, zu der auch regelmäßige Blutzuckerkontrollen gehören. Die möglichen Folgen für schlecht eingestellte Diabetiker sind drastisch: Es kommt zu Gefäßschäden, die unter anderem Nierenversagen, Blindheit, Herzinfarkt und Schlaganfall verursachen können. Dazu kommen Wundheilungsstörungen und Nervenschäden. Jene Folgen sind es, die die Zuckerkrankheit zu einer ungeheuren Belastung für den Einzelnen, aber auch für das Gesundheitssystem und damit für die ganze Gesellschaft machen.
Der Gemeinsame Bundesausschuss - dabei handelt es sich um das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen - sieht das nicht so eng. Auf der Website www.g-ba.de begründet er seine Entscheidung unter anderem folgendermaßen: "Die Einschränkung der Verordnungsfähigkeit von Harn- und Blutzuckerteststreifen gilt ausschließlich für nicht insulinpflichtige Diabetiker. Diese Patienten mit leichteren Formen des Diabetes mellitus - hierzu gehört ein großer Teil der Typ-2-Diabetiker - können ihre Krankheit bereits mit einer entsprechenden Ernährungsumstellung, Gewichtsabnahme und Erhöhung der körperlichen Aktivität sowie der Einnahme oraler Medikamente (sogenannter Antidiabetika) gut in den Griff bekommen."Soviel zur Theorie. Dass die Realität anders aussieht, ist bei Patientenvertretern und Diabetes-Organisationen bestens bekannt. Der Deutsche Diabetiker Bund weist daher in einer Online-Petition an den Deutschen Bundestag darauf hin, dass auch nicht insulinpflichtige Diabetiker von einer Selbstkontrolle profitieren, da diese gefährliche "Blutzuckerspitzen" sichtbar macht.
Der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e. V. schreibt in seiner Stellungnahme: "Bereits in seiner 2006 und 2007 durchgeführten Patientenbefragung konnte der VDBD nachweisen, dass hochwertige Schulung und Beratung durch qualifizierte Diabetesberater/innen und Diabetesassistenten/innen wichtiger Bestandteil einer erfolgreichen Therapie von Patienten mit Diabetes mellitus ist. Dies wird nicht zuletzt durch eine deutliche Verbesserung der Stoffwechseleinstellung mittels regelmäßiger Blutzuckerselbstmessung belegt. Bei 592 Patienten war eine Berechnung der Veränderung des HbA1c-Wertes (Anm. d. Red.: Langzeitblutzucker) im Verlauf möglich. Im Mittel sank der HbA1c von 8,142 Prozent auf 7,028 Prozent. Dies entspricht einer mittleren Veränderung von - 1,114 Prozent. Dieses Ergebnis liegt signifikant über der klinisch relevanten Reduktion von 0,4 Prozent. Das Ergebnis zeigt, dass die Blutzuckerselbstmessung eine geeignete Sicherheitsmaßnahme sowie ein hilfreiches Instrument zur Therapieanpassung darstellt."
Nicht nur Über-, sondern auch Unterzuckerung stellt für Diabetiker eine ernstzunehmende Gefahr dar: "Neue Daten aus aktuellen Studien zeigen, dass auch Typ-2-Diabetiker, die kein Insulin spritzen, ein nicht zu vernachlässigendes Risiko für schwere Unterzuckerungen aufweisen. Unterzuckerungen sind zudem bei älteren Menschen - und um diese Gruppe geht es bei diesem Beschluss - gefährlich", so Privatdozent Dr. Bernhard Kulzer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Psychologie und Verhaltensmedizin der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) und Geschäftsführer des Forschungsinstitutes der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM).
Unterstützung erfahren Diabetiker auch von Apothekerinnen und Apothekern. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) vertritt ebenfalls die Meinung, dass es sich bei der Blutzuckerselbstkontrolle um eine etablierte Maßnahme zur Feststellung von überhöhtem oder zu niedrigem Blutzuckerspiegel handelt. Darüber hinaus sieht die AMK die mögliche Gefährdung der Patienten durch den Verordnungsausschluss nicht ausreichend thematisiert.
Die Stimmen gegen den Beschluss sind laut und zahlreich - dennoch werden sie nicht gehört.
Als Grundlage für seine Entscheidung nennt der Gemeinsame Bundesausschuss lediglich eine in Auftrag gegebene Nutzenbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) - und hier beginnt der eigentliche Skandal.
"Zur Frage, ob die Selbstmessung dabei helfen kann, Folgeerkrankungen zu vermeiden, fanden sich keine aussagekräftigen Studien. Daher bleibt offen, ob eine regelmäßige Selbstmessung beispielsweise zu weniger Herzinfarkten, Schlaganfällen, Sehverlusten oder Nierenerkrankungen führt. Die wenigen Daten lassen kaum Schlussfolgerungen darüber zu, wie sich die Selbstmessung auf die Lebensqualität und Therapiezufriedenheit auswirkt", schreibt das Institut auf der Website "Gesundheitsinformation.de".
Und weiter: "Die Forschergruppe wertete 6 Studien ... aus. Die Studien liefen über sechs bis zwölf Monate, was zu kurz ist, um mögliche Langzeitfolgen wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle zu untersuchen."
Mit anderen Worten: Der Gemeinsame Bundesausschuss verwirft, wie er selber zugibt, eine von vielen Diabetikern erfolgreich durchgeführte Praxis der Selbstkontrolle, nachdem ihnen diese von Diabetes-Fachkräften und Apotheken vermittelt wurde. Und das tut er, ohne dass auf ausreichender wissenschaftlicher Grundlage die Frage beantwortet wurde, ob und in welchem Ausmaß der Verzicht auf die Selbstmessung zu mehr Herzinfarkten, Schlaganfällen, Sehverlusten oder Nierenerkrankungen führt.
Natürlich drängt sich die Frage auf, warum jahrzehntelange praktische Erfahrungen von Patienten und Experten, die sich tagtäglich mit der Krankheit und ihren Auswirkungen konfrontiert sehen, schlicht ignoriert werden.
Betrachtet man die Entwicklungen im Gesundheitswesen, vor allem im vergangenen Jahrzehnt, ist die Antwort schnell gefunden: Statt in ein funktionierendes Gesundheitswesen zu investieren und dieses weiterzuentwickeln, kommt nur ein Werkzeug zum Einsatz: die Kostendeckelung.
Die Verordnungseinschränkung für Typ-2-Diabetiker zeigt diesen Prozess besonders anschaulich: Die Verordnung senkt bei einer großen Zahl von betroffenen Patienten auf den ersten Blick die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung. Was die möglicherweise von dem neuen Beschluss verursachten, hoch spezialisierten Therapien von an Nieren, Augen oder dem Herz-Kreislauf-System erkrankten Diabetikern in den kommenden fünf, zehn oder zwanzig Jahren kosten werden, ist jetzt jedoch nicht absehbar. Doch wer kann in einigen Jahren noch nachvollziehen, ob einem Diabetiker schwerwiegende Folgekrankheiten erspart geblieben wären, wenn seine Krankenkasse die Blutzuckerteststreifen weiterhin erstattet hätte?
Es ist wie immer: Kurzfristige Kostensenkung ist alles - die hochgradige Verunsicherung der Patienten bedeutet nichts. Aber das hatten wir schon bei den sogenannten Rabattverträgen.
HERR MINISTER, ÜBERNEHMEN SIE!
Ein Kommentar der Redaktion
Millionen Diabetiker gibt es in Deutschland. Die regelmäßige Selbstkontrolle des Blutzuckerspiegels war bisher für viele von ihnen ein absolutes Muss. Dazu brauchen sie Teststreifen und ein Messgerät und Fachkräfte, die es ihnen beibringen. Die Kosten für die Kassen sind entsprechend hoch. Eine Milliarde geben sie pro Jahr dafür aus. Jetzt hat der Gemeinsame Bundesausschuss GBA den Beschluss gefasst, diese Teststreifen für nicht insulinpflichtige Typ-2-Diabetiker nicht mehr zu erstatten. Und das ohne eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung darüber, welche negativen Folgen das für die Gesundheit dieser Menschen haben kann. Das ist ein Skandal.
Doch noch ist nicht aller Tage Abend. Wir haben einen neuen Bundesgesundheitsminister, Daniel Bahr. Kann er der unsinnigen, gefährlichen und patientenbelastenden Entwicklung entgegenwirken? Herr Minister - übernehmen Sie!
NOWEDA eG
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