Politische Fehlentscheidungen prägen seit Jahren die negative Entwicklung auf dem Gesundheitsmarkt. Apotheken schließen, Arztpraxen verschwinden, Qualität und Quantität der medizinischen Versorgung – sowohl ambulant als auch im Krankenhaus – nehmen ab und durch die Zulassung von Versandhandel und Abholstellen für Arzneimitteln – z. B. in Drogerien – ist auch die Arzneimittelsicherheit deutlich gefährdet. Am Ende der Versorgungskette steht der Patient. Gerade alte und schwerkranke Menschen bekommen den Verfall eines einst vorbildlichen Gesundheitssystems am eigenen Leibe zu spüren. Die Ursache findet sich in endlosen Reformen, in denen der „worst case“ – das schlimmste Szenario – grundsätzlich nicht bedacht wurde. Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass der us-amerikanische Ingenieur A. Murphy mit seiner Hypothese, dem „Murphy’s Law“ scheinbar recht hatte: Was schief gehen kann, geht auch schief.
Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung greift das Thema im Leitartikel der September-Ausgabe auf und geht dabei nicht nur auf das Desaster in der Gesundheitspolitik ein.
Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland erscheint monatlich mit einer Auflage von einer Million Exemplaren deutschlandweit und ist kostenlos in Apotheken erhältlich.
„WENN ETWAS SCHIEF GEHEN KANN, DANN GEHT ES AUCH SCHIEF“
Wie „Murphys Gesetz“ die Apotheken trifft
Es gibt Dinge, die laufen perfekt. Perfekte Planung, perfekte Vorbereitung, perfekter Ablauf. Und auch die Folgen sind ziemlich perfekt vorausberechnet. Vieles in der deutschen Wirtschaft läuft offensichtlich nach diesem Prinzip. Sonst wären deutsche Produkte nicht so gefragt. Und wir nicht seit vielen Jahren Exportweltmeister.
Anders in der Politik. Hier geht es manchmal zu wie im Tollhaus. Jeden Tag neue Hiobsbotschaften. Was auch immer öffentlichkeitswirksam angefasst wird, vieles geht schief. Beispiele gibt es genug. Wir brauchen uns nur umzusehen. Eben keine perfekte Planung, kein perfekter Ablauf, keine perfekt vorausberechneten Folgen. Statt dessen Chaos. Und Fassungslosigkeit, Resignation oder – schlimmer noch – Wut bei den Betroffenen. Unweigerlich denkt man an „Murphys Gesetz“, eine Lebensweisheit, die auf den US-amerikanischen Ingenieur A. Murphy zurückgeht. Seine These: Alles was schiefgehen kann, wird schiefgehen.
Sollen wir hier noch einmal über die Einführung des Euro reden? Über die dilettantischen Verträge ohne Austrittsklausel? Verträge, die dazu führen, dass Deutschland inzwischen für unvorstellbare Summen haftet? Schiefgegangen.
Oder die Sache mit dem Biosprit E 10 – Benzin mit einem zehnprozentigen Anteil Ethanol. Ethanol wird aus „nachwachsenden Rohstoffen“ gemacht. Früher sagte man Weizen, Mais oder Zuckerrohr dazu. Alleine 150 Millionen Tonnen Getreide werden jährlich zu Ethanol verarbeitet, während die Weltreserven an Getreide von 175 Millionen Tonnen auf nur noch 100 Millionen Tonnen gesunken sind. Das meldete die Wochenzeitung „Die Zeit“ in ihrer Online-Ausgabe. Jetzt werden diese Agrarprodukte weltweit knapper und teurer. Deshalb steigen die Preise für Lebensmittel. E 10 treibt so die Lebenshaltungskosten und verschärft den Hunger in der Welt. Das wollen Greenpeace, das Hilfswerk Misereor, die Verbraucherzentralen und die FDP nicht länger hinnehmen. Auch wenn der neue Bundesumweltminister Peter Altmeier (CDU) (noch) anderer Meinung ist: schiefgegangen.
Und wie ist es mit der Abschaffung der Glühbirne? Sicher, sie fraß Strom und produzierte Wärme. Doch die neuen Energiesparlampen, zu deren Einsatz die EU ganz Europa zwingt, sind alles andere als umweltfreundlich. Sie enthalten gefährliches Quecksilber. Von derselben EU wurden deshalb im Jahr 2009 quecksilberhaltige Thermometer verboten. Geht eine Energiesparlampe kaputt, strömen hochgiftige Quecksilberdämpfe aus.
Werden sie eingeatmet, zerstören sie die Nervenzellen im Gehirn. Fälle gibt es schon. Wer glaubt, dass es deshalb ein durchsetzbares Entsorgungskonzept für Energiesparlampen gibt, der irrt. So manche landet im Hausmüll, Quecksilber inklusive. Schiefgegangen. Doch die EU bewegt sich nicht. Im Gegenteil – sie verschärft das Tempo.
Die Liste der „schiefgegangenen“ Gesetze, Projekte und Reformen ließe sich beliebig verlängern. Förderung der Photovoltaik: Wer es sich erlauben kann, eine teure Anlage auf sein Dach zu setzen, darf auf Jahre hinaus zu teuren Strom ins Netz speisen. Die staatliche, viel zu hohe Förderung ist für bestehende Anlagen nicht kündbar. Das wirkt wie ein dauerhafter Vertrag zu Lasten Dritter: „Der kleine Mann“ muss die dramatisch steigenden Strompreise zahlen. Immer mehr Bürger schaffen das nicht. Für sie zumindest gilt: schiefgegangen.
„Murphys Gesetz“ gilt auch im Bildungswesen. Von überflüssigen „Pisa“-Reformen über die nicht durchdachte Einführung des achtjährigen Gymnasiums bis hin zum Bachelor und Master statt der deutschen Diplom-Studiengänge mit ihrem hohen Niveau: Selbst die meisten Universitätsrektoren und Professoren – von den Studenten ganz abgesehen – sind inzwischen der Meinung, dass durch diese „Reform“ nichts, aber auch gar nichts besser geworden ist – im Gegenteil. Also schiefgegangen. Aber Bundesbildungsministerin Annette Schavan widerspricht. Sie ist näher am Problem. Glaubt sie.
Und wie sieht es im Gesundheitswesen aus, speziell, was die Apotheken anbetrifft? Auch hier gilt „Murphys Gesetz“. Wie oft hat diese Zeitung schon auf die negativen Folgen der Einführung des Versandhandels mit Arzneimitteln hingewiesen? Wenn eine Reform schiefgegangen ist, dann diese: Der Versandhandel von Medikamenten als massives Einfallstor für Arzneimittelfälschungen. Der Versandhandel als Begründung für die Einrichtung von unkontrollierten Abholstellen für Arzneimittel – sogenannten „Pick-up-Stellen“ – in Drogeriemärkten, Tankstellen und Blumenläden. Der Versandhandel schließlich als Förderer von anonymem Arzneimittelmissbrauch: Schmerzmittel sind eines der meistgekauften Produkte – Versandhandel demnach das Gegenteil von „Arzneimittelsicherheit“. Doch die Politik ist unfähig, etwas zu ändern.
Jetzt haben sich, wie die Tageszeitung FAZ in ihrer Ausgabe vom 27. Juli berichtet, 15 Bundestagsabgeordnete in einer Arbeitsgruppe mit der Zukunft des ländlichen Raumes beschäftigt. Die sieht nicht gut aus. Die Lebensqualität sinkt. Zunehmend ältere Menschen, weniger Kinder, Abwanderung von tüchtigen Arbeitskräften – das alles dünnt die Räume aus. Das soll jetzt anders werden. Um die ländlichen Räume wieder zu stärken, sollen nicht nur Breitbandanschlüsse den Zugang zum Internet verbessern, sondern auch heimische Erwerbszweige, wie Land- und Forstwirtschaft, gefördert werden.
Das Interessanteste aber: Die medizinische Versorgung in ländlichen Räumen soll verbessert werden. Das hört sich gut an. Schließlich hat man Jahrzehnte lang zugesehen, wie ein ländliches Krankenhaus nach dem anderen geschlossen wurde. Und wie ein Arzt nach dem anderen sich zur Ruhe setzte und keinen Nachfolger fand, weil sich die Führung einer Praxis auf dem Lande kaum noch lohnt. Zu stark sind die durchschnittlichen Erträge der Arztpraxen in den letzten zwei Jahrzehnten gesunken.
Und wie ist das mit den Apotheken? Lohnt sich das Betreiben einer Apotheke noch? Die Antwort: Nur wenn die Erträge stimmen. Nur wenn die steigenden Personalkosten aufgefangen, die notwendigen Investitionen getätigt und die vielfältigen gesetzlichen Auflagen finanziert werden können. Und wenn so viel an Gewinn übrigbleibt, wie es der Verantwortung für das Führen eines personalintensiven, mittelständischen Betriebes mit öffentlich-rechtlichem Versorgungsauftrag entspricht. Doch wie sieht es mit den Erträgen in der Realität aus? Fest steht, dass sie in den letzten acht Jahren ständig gesunken sind. Der Grund: Die fixe Vergütung, die die Apotheken für die Abgabe eines Arzneimittels erhalten, ist seit dem Jahr 2004 nicht mehr angepasst worden. Inzwischen fehlt ein Betrag von einem Euro pro Packung.
Zuständig für die notwendige Erhöhung ist Bundeswirtschaftsminister Dr. Philipp Rösler (FDP). In seiner Verantwortung liegt die Arzneimittelpreisverordnung. Er hat jetzt einen Vorschlag gemacht. Mehr als 25 Cent pro Packung will er nicht genehmigen. Die Krankenkassen jubeln, die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) ebenfalls. Doch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) verweigert sogar dem mageren Betrag von 25 Cent die Zustimmung. Er fürchtet Belastungen des Bundeshaushaltes. Deutsche Apotheken kaputtsparen, damit Geld für die europäische Schuldenunion da ist? Oder ein abgekartetes Spiel? Etwa nach dem Motto: Wenn die Apotheker die Wahl haben zwischen 0 Cent und 25 Cent, werden sie sich „dankbar“ für die 25 Cent entscheiden?
Kann man das Problem beschreiben, ohne den Eindruck zu erwecken, die Apotheker seien „larmoyant“, also „weinerlich“? Diese wenig hilfreiche Formulierung leistete sich der GKV-Spitzenverband der Krankenkassen. Larmoyanz dürfte das letzte sein, was die Apotheker an den Tag legen. Aber sauer sind sie schon. Und enttäuscht. Sie haben darauf vertraut, dass bei der Umstellung auf eine feste Vergütung pro Packung bei gestiegenen Kosten – und welcher Betrieb hat die nicht? – regelmäßig eine entsprechende Anpassung erfolgt. Schiefgegangen.
Doch ohne ausreichende Anpassung der Vergütung werden viele Apotheken nicht überleben. Es stirbt sich langsam, doch der Zug nimmt Fahrt auf. Aufzuhalten ist er nicht mehr. 76 Apotheken wurden im ersten Halbjahr 2012 neu eröffnet, doch 234 sind geschlossen worden. So viele wie niemals zuvor. Auf das ganze Jahr hochgerechnet, könnten es am Ende 400 Apotheken sein. Wenn es so weitergeht – und nichts spricht dagegen – werden in zehn Jahren viertausend Apotheken für immer ihre Türen geschlossen haben, eine große Zahl davon sicher auf dem Lande.
Die medizinische Versorgung in ländlichen Räumen auf diese Weise zu stärken, kann nur schiefgehen. „Murphys Gesetz“ ist auch hier nicht zu widerlegen.