NEUE ALLGEMEINE GESUNDHEITSZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND/ AUSGABE FEBRUAR 2008

BARMER Ersatzkasse im Inkontinenz-Chaos 06.02.2008 12:00 Uhr

Neben vielen interessanten Gesundheitsthemen widmet sich die Februar-Ausgabe der „Neuen Allgemeinen Gesundheitszeitung für Deutschland“ im Leitartikel besonders den skandalösen Zuständen im Hilfsmittelmarkt nach den erfolgten oder geplanten Ausschreibungen der Krankenkassen für Inkontinenzprodukte.
„Aufsaugende Inkontinenzartikel“ sind für Millionen Betroffene im täglichen Leben unverzichtbar. Doch die „Rabattschlacht“ um jeden Preis hat jetzt auch diesen Sektor erreicht. Auch die Barmer Ersatzkasse plant, in Zukunft die wohnortnahe und patientenfreundliche Versorgung durch Apotheken und Sanitätshäuser zu kippen und nur noch mit wenigen Anbietern zusammenarbeiten. Experten und Betroffene warnen eindringlich vor Qualitätsverlust und dem Ende der flächendeckenden Versorgung.
Die „Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland“ erscheint monatlich mit einer Auflage von einer Million Exemplaren und ist kostenlos in Apotheken erhältlich. Alle Artikel sind online auch unter www.neue-allgemeine.de nachzulesen.

Nach Pillen-Chaos und Ärzte-Chaos jetzt das Hilfsmittel-Chaos?
Billig gewinnt - Patient verliert

Es gibt persönliche Themen, über die nicht gern gesprochen wird. Eines davon ist die Inkontinenz. Laut des Selbsthilfeverbandes Inkontinenz e. V. sind rund fünf bis acht Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Tendenz steigend, denn nicht selten betrifft das Unvermögen, die eigenen Ausscheidungen ausreichend zu kontrollieren, ältere Menschen.

Betroffene konnten sich bisher über eine gute Versorgung mit den so genannten „aufsaugenden Inkontinenzartikeln“ freuen. Doch die im April 2007 in Kraft getretene Gesundheitsreform hat der Qualität ohne Rücksicht auf die Patienten einen Riegel vorgeschoben. Ähnlich wie im Falle der stark unter Beschuss geratenen Arzneimittel-Rabattverträge, die Krankenkassen mit Arzneimittelherstellern abschließen dürfen und allzu bereitwillig abschließen, droht jetzt auch auf dem Hilfsmittelmarkt das Chaos zu Lasten der Patienten.

Die Regierung ermöglicht den Krankenkassen Ausschreibungen auf Hilfsmittel. Ein qualitätsresistenter Wettbewerb, denn in aller Regel kann nur der Billigste gewinnen. Als erste hat das die BKK LV Niedersachsen/Bremen erfahren. Mit dem billigsten Hersteller, der die Ausschreibung für Inkontinenzprodukte gewann, endete der Versuch wegen fehlender Lieferfähigkeit und Qualität im Chaos.
Als eine der nächsten Krankenkassen wagte die AOK Mecklenburg-Vorpommern das Experiment mit ungewissem Ausgang: Statt ihre Versicherten wie bisher über 400 Apotheken und eine Reihe von Sanitätshäusern mit Inkontinenzartikeln wohnortnah zu versorgen, verlangt sie jetzt von nur einigen wenigen Lieferanten, die gleiche Leistung zu erbringen. Keine Apotheke mehr als Anlaufstelle in unmittelbarer Nähe? Kein Apotheker mehr, der Patient und Umfeld kennt? Verbesserte Versorgung - eine Illusion? Nun wollte auch die BARMER Ersatzkasse zuschlagen: ab dem 1. Februar 2008 sollte es nur noch höchstens 20 Lieferanten für ganz Deutschland geben. Bisher versorgten 21.500 Apotheken und 2.500 Sanitätshäuser die inkontinenten Patienten der BARMER qualitätsbewusst und kundennah.
Aber gegen die Ausschreibung der BARMER gibt es Einsprüche betroffener Unternehmen, die die gewollte Umstellung der Versorgung in vielen Regionen auf nur einen Anbieter noch verhindern. Für die Übergangszeit dürfen die Apotheken dort noch einmal den Lückenbüßer spielen. Die Patienten wird es freuen.

Betroffene und Selbsthilfeverbände reagieren schockiert auf die miesen Aussichten. Die flächendeckende Versorgung, die bisher über Apotheken und Sanitätshäuser gewährleistet wurde, ist akut gefährdet. Schlimmstenfalls wird es pro Region nur einen Versorger geben: für die Betroffenen, deren Mobilität häufig eingeschränkt ist, eine Katastrophe. Behinderte und ältere Menschen sowie Angehörige können nicht mehr auf die Apotheken in unmittelbarer Nähe zurückgreifen. Diese sind jetzt ganz außen vor, denn die Apothekenverbände dürfen an den Ausschreibungen nicht teilnehmen - da spricht das Kartellrecht gegen. Und einzeln erfüllen sie nicht die Kriterien für die Ausschreibung eines „Loses“ für eine ganze Region. Apotheken ade! Gute Versorgungsnetze werden Geschichte sein.

Bereits im Juni des vergangen Jahres reichte die besorgte Mutter eines behinderten Kindes eine Petition gegen Hilfsmittelausschreibungen beim Deutschen Bundestag ein, die unter anderem von der Inkontinenz Selbsthilfe e. V. unterstützt wurde. Der Verein sieht in den Ausschreibungen der Krankenkassen und den zu befürchtenden Folgen „einen massiven Eingriff in die Grundrechte aller Patienten.“

Besorgt sind viele Betroffene nicht nur wegen der mittelfristig zu erwartenden Qualitätseinbußen, zum Beispiel durch „Leckagen“ (undichtes Material), sondern auch wegen drohender Verletzungen ihrer Privat- oder gar Intimsphäre. Wird der neue Versorger die Vorlagen oder Windelhosen neutral verpacken? Wird er sie diskret übergeben? Die Krankenkassen mögen das zwar verlangen, aber wer steht schon neben dem Zusteller, wenn niemand die Türe öffnet und er das Paket einfach beim Nachbarn abgibt?

Auch in Herstellerkreisen sind die kritischen Stimmen mehr als laut. Hilfsmittelproduzenten, die sich bisher durch hochwertige Produkte und ein breites Angebot einen Namen gemacht haben, können bei den Ausschreibungen nur dann mithalten, wenn sie die Preise drastisch senken. Das geht auf Dauer nur mit unvermeidbaren Qualitätseinbußen. Denn Lieferanten, die bisher auf Qualität setzten, müssen mit billigem Material arbeiten, um im Preiskampf bestehen zu können.
Der Leidtragende ist erneut der Patient, dem die Produkte eigentlich helfen sollten, ein Stück Lebensqualität zu erhalten.

Was nichts kostet, ist auch nichts
Ein Kommentar der Redaktion

Hinsichtlich der Bedenken von Experten, Patienten und Herstellern fragt man sich, warum die Bundesregierung trotz berechtigter und nachvollziehbarer Einwände Ausschreibungen im Rahmen der Gesundheitsreform ermöglichte. Die Erklärung findet sich in der andauernden Litanei des allgegenwärtigen Sparzwangs. Ungebremst wird der Bevölkerung eingetrichtert, dass dringend mehr Wettbewerb ins System müsse, dass dadurch gespart würde und dass die Versicherten davon profitierten. Doch was ein Oligopol aus einigen wenigen Anbietern, die die Versorgung übernehmen werden, mit funktionierendem Wettbewerb zu tun haben soll, bleibt ein Geheimnis der deutschen Gesundheitspolitik. Es ist abzusehen, dass die Preise wieder steigen werden.
Die Sackgasse ist vorprogrammiert. Letztlich werden die Kassen nicht profitieren. Die Patienten büßen Lebensqualität ein, denn schlechtere Materialien, gerade bei Inkontinenzartikeln, können Wundliegen und Folgeerkrankungen nach sich ziehen. Und die Kosten für die Volkswirtschaft werden steigen, denn schlechtere Qualität sorgt letzten Endes für einen höheren Verbrauch an Vorlagen und anderen Inkontinenzprodukten. Aber wen interessiert schon, dass damit auch massiv unsere Umwelt belastet wird?
Und es sage niemand, die Kassen seien per Gesetz gezwungen, Ausschreibungen zu machen. So dumm ist das Gesetz nicht. Da heißt es ausdrücklich, nur wenn es „zweckmäßig“ ist. Was wäre, wenn die Krankenkassen sich über diese „Zweckmäßigkeit“ vorher mehr Gedanken zugunsten ihrer Versicherten machen würden?
Inkontinenzversorgung mit Qualitätsbewusstsein und wirtschaftlichem Weitblick? Fehlanzeige, denn „was nichts kostet, ist auch nichts“ (Volksmund).

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