Anaphylaxie

Drohende Aut idem-Regelung bei Adrenalin-Autoinjektoren bringt Allergie-Patienten in Lebensgefahr 09.07.2015 13:00 Uhr

Bereits heute haben allergische Erkrankungen das Ausmaß einer Volkskrankheit angenommen und das „Ende der Fahnenstange“ ist noch lange nicht erreicht. Damit steigt auch die Zahl der Allergie-Patienten, die einen allergischen Schock (Anaphylaxie) erleiden, der ohne die sofortige Selbstbehandlung mit einem Adrenalin-Autoinjektor (AAI) tödlich verlaufen kann. „Und genau in diese Situation „platzt“ die Absichtserklärung, Rabattverträge für AAI, die von verschiedenen Herstellern angeboten werden, zu verhandeln. Diese würden den Apotheker verpflichten, gesetzlich versicherten Patienten den im Rabattvertrag ihrer jeweiligen Kasse festgelegten Injektor anstelle den vom Arzt verordneten auszuhändigen“, so Prof. Dr. Ludger Klimek, Wiesbaden, Sprecher des Expertenforums Anaphylaxie. „Man muss es so drastisch ausdrücken: Hier wird der mögliche Tod von Patienten in Kauf genommen“, ergänzt PD Dr. Ernst Rietschel, Köln, Mitglied des Expertenforums. „Wir schulen unsere Patienten sehr sorgfältig auf das jeweilige verordnete Autoinjektor-Modell, damit sie es im Ernstfall sicher anwenden können. Das würde durch eine Aut idem-Regelung, bei der der vertraute Injektor durch ein anderes Modell ausgetauscht würde, ad absurdum geführt. Ein Tausch mit fatalen Folgen: Denn der in der Notfallsituation ohnehin schon verängstigte Patient bzw. Angehörige wird zusätzlich verunsichert, so dass im äußersten Fall der AAI nicht korrekt oder gar nicht verwendet wird und ernste Gesundheitsschädigungen oder gar Todesfolge drohen“, so Rietschel weiter. „Das muss unter allen Umständen verhindert werden. Wir fordern daher den Gemeinsamen Bundesausschuss sowie die gesetzlichen Krankenversicherer auf, die Aut idem-Regelung für AAI grundsätzlich auszusetzen“, appelliert das Expertenforum Anaphylaxie (www.anaphylaxie-experten.de) in einer aktuellen Veröffentlichung im Allergo Journal (2015; 24(4)).

Die Beschwerden einer Anaphylaxie, einer potenziell lebensbedrohlichen allergischen Reaktion, können sehr vielgestaltig sein. Beachtenswert ist, dass die Symptome nahtlos von leichten Hauterscheinungen über respiratorische, kardiovaskuläre oder gastrointestinale Beschwerden bis hin zu schwerem Schockgeschehen mit Herz-Kreislauf­versagen übergehen können. Zur Behandlung der Anaphylaxie empfehlen sowohl nationale als auch internationale Leitlinien die sofortige intramuskuläre Verabreichung von Adrenalin. Deshalb wird Patienten, die bereits eine anaphylaktische Reaktion erlebt haben, ein Adrenalin-Autoinjektor zur sofortigen Selbstinjektion verordnet.

Auf den zweiten Blick wird deutlich: AAI ist nicht gleich AAI

Die meisten in Deutschland erhältlichen AAI unterscheiden sich weder in ihrem Wirkstoff (Epinephrin (Adrenalin)), in ihrer Dosierung (0,3 mg für Erwachsene und Jugendliche ab 30 kg Körpergewicht; 0,15 mg für Kinder ab 15 kg Körpergewicht) noch in ihrer Darreichungsform als Injektor und in der Packungsgröße. Zudem sind alle AAI zur Notfallbehandlung einer akuten allergischen Reaktion zugelassen. Damit sind auf den ersten Blick die Voraussetzungen zum Austausch auf der gesetzlichen Grundlage gegeben. „Die Crux ist jedoch, dass sich die AAI hinsichtlich ihrer Funktionsweise und der Nadellänge unterscheiden“, erläutert Anaphylaxie-Experte Dr. Lars Lange, Bonn. Dadurch ist eine produktspezifische Schulung bei der Verordnung erforderlich. „Man stelle sich nun vor, der Patient erhält anstelle seines vertrauten Injektors ein anderes Modell und aufgrund falscher Anwendung gelingt es ihm nicht, seine lebensgefährliche Situation in den Griff zu bekommen“, so Lange. „Gerade in der Notfallsituation ist die exakte Handhabung der AAI besonders entscheidend. AAI sind daher für die Aut idem-Regelung grundsätzlich nicht geeignet“, sind sich alle Mitglieder des Expertenforums einig.

Hintergrundinformation: Aut idem – die gesetzlichen Grundlagen
Laut fünftem Sozialgesetzbuch (SGB V) §129 sind Apotheker in Deutschland dazu verpflichtet, im Rahmen der Aut idem-Regelung ein wirkstoffgleiches, günstigeres Arzneimittel abzugeben, wenn dies nicht ausdrücklich vom verordnenden Arzt untersagt wurde. Der lateinische Ausdruck „Aut idem“ bedeutet übersetzt „oder ein Gleiches“. Möchte der Arzt nicht, dass bei seinem Patienten das verordnete Medikament ersetzt wird, muss er das durch Ankreuzen des Feldes „Nec aut idem“ auf dem Rezeptvordruck kenntlich machen. Anderenfalls muss der Apotheker ein anderes Präparat mit gleichem Wirkstoff, gleicher Wirkstoffstärke und Packungsgröße, vergleichbarer Darreichungsform und mit (mindestens) den gleichen Anwendungsgebieten auswählen. Gedacht war dies ursprünglich dafür, dass Patienten rasch mit den notwendigen Arzneimitteln versorgt werden, auch wenn das vom Arzt verordnete nicht vorrätig sein sollte. Heute wird die Regelung allerdings angewandt, um den Krankenkassen Einsparungen bei den Arzneimittelausgaben zu bringen. Dazu schließen die verschiedenen Krankenkassen mit pharmazeutischen Herstellern Rabattverträge ab, die den Kassen Rabatte durch den Hersteller garantieren, wenn ihre Versicherten im Rahmen der Aut idem-Regelung das jeweilige Medikament durch den Apotheker erhalten. Für den Apotheker bedeutet das, sofern der Arzt die Substitution nicht ausgeschlossen hat, muss er prüfen, ob die Krankenkasse des Versicherten einen Rabattvertrag abgeschlossen hat. Wenn das der Fall ist, muss er zwingend austauschen.

Hintergrundinformationen: Anaphylaxie
Die Anaphylaxie ist eine potentiell lebensbedrohliche systemische allergische Reaktion. Es handelt sich in der Regel um eine IgE-vermittelte Allergie vom Typ 1 (Soforttyp). Pathophysiologisch kommt es zu einer Freisetzung verschiedener Mediatoren aus Mastzellen und basophilen Granulozyten: u. a. Histamin, Prostaglandinen, Leukotrienen, Tryptase, Plättchen-aktivierendem Faktor, Zytokinen und Chemokinen. Die Auslöser für schwere allergische Reaktionen sind: am häufigsten Nahrungsmittel (z. B. Erdnüsse, Baumnüsse, Milch, Eier, Schalentiere), Insektengifte (z. B. durch Bienen- oder Wespenstich) und Medikamente (z. B. Antibiotika oder Schmerzmittel). Die genaue Zahl der Anaphylaxien ist unbekannt. Schätzungen zufolge muss in Deutschland mit 1-3 Ereignissen/100.000 Einwohner pro Jahr gerechnet werden. Dabei ist von 1-3 Todesfällen/1 Millionen Einwohner auszugehen. Patienten mit Nahrungsmittel-, Insektengift- und Medikamentenallergie sollten einen Allergologen aufsuchen, der mittels Anamnese, Prick-Test, IgE-Bestimmung im Blut sowie eventuell anhand von Provokationstests das Anaphylaxie-Risiko des Allergikers abschätzen kann und gegebenenfalls ein Notfallset verordnet. Präventiv kommen die Expositionsprophylaxe und in geeigneten Fällen – bei der Insektengiftallergie – die Hyposensibilisierung in Frage. Zur Therapie der allergischen Reaktion werden je nach Ausprägungsgrad orale Antihistaminika, Glukokortikoide, ß2-Mimetika und für die Notfallbehandlung Adrenalin im Autoinjektor (Notfallset) eingesetzt.