Im Alltag am HV-Tisch klingt die viel beschworene „Digitalisierung des Gesundheitswesens“ für viele noch weit entfernt. Doch der Prozess ist nicht nur unaufhaltsam, er ist auch alles andere als schleichend. Dr. Holger Schmidt, Netzökonom und Focus-Chefkorrespondent, erklärt, warum sich Apotheken auf die Digitalisierung einlassen müssen und wie sie künftig Amazon begegnen. Bei VISION.A, der Digitalkonferenz von APOTHEKE ADHOC mit Unterstützung der Apotheken Umschau, spricht er darüber, was Disruption für Patienten und Apotheker bedeutet.
ADHOC: Noch drei Wochen bis zur Digitalkonferenz VISION.A, was macht Ihr Vortrag?
SCHMIDT: Ich muss zugeben, dass es nicht so einfach ist wie gedacht. Sie haben so vielen Regularien in Ihrer Branche, dass viele Ideen schon im Keim erstickt werden. Ich würde sagen, dass nur die öffentliche Verwaltung langsamer ist.
ADHOC: Der Gesundheitsmarkt funktioniert nun einmal nach anderen Regeln.
SCHMIDT: Mag sein. Aber wenn der Arztbesuch heute genauso abläuft wie vor 30 Jahren und noch jede Menge Faxe verschickt werden, spricht das nicht für Effizienz und Nutzerfreundlichkeit. Und so etwas ist immer gefährlich.
ADHOC: Gefährlich?
SCHMIDT: Die Frage ist aber nicht, ob sich der Gesundheitsmarkt digitalisiert. Die Frage ist, ob sich die Gesundheitsbranche selbst digitalisiert oder ob sie das Feld den Digitalunternehmen überlässt. Dann läuft sie Gefahr, nicht mehr mitbestimmen können, sondern bestenfalls mitspielen zu dürfen. Ich kann verstehen, dass Ärzte und Apotheker ihren Markt verteidigen. Aber wenn man sich einbetoniert, schafft das Raum für Branchenfremde. Google arbeitet unter Hochdruck an Lösungen für den Gesundheitsbereich – und wird es im Zweifelsfall besser machen.
ADHOC: Was könnte Google besser machen?
SCHMIDT: Digitalisierung bedeutet Vereinfachung: Man muss kein neues Produkt erfinden, um im Internet Geschäfte zu machen. Man muss dafür sorgen, dass der Kunde schneller und besser an Informationen und Ware kommt. Die Unternehmen, die das verinnerlicht haben, sind die erfolgreichsten im Netz.
ADHOC: Das heißt für den Gesundheitsbereich?
SCHMIDT: Arzneimittel sind klein und leicht, haben Standardformate und geringe Retourenquoten. Das Sortiment ist überschaubar und überall gleich. Damit sind sie prädestiniert für den Versandhandel, die Zustellung durch einen Kurier oder bald auch die Lieferung per Drohne.
ADHOC: Sie brechen eine Lanze für den Versandhandel?
SCHMIDT: Ich breche keine Lanze für irgendwen. Ich versuche Ihnen zu erklären, dass es ein Trugschluss ist zu glauben, die Digitalisierung würde an einem vorüberziehen. Wenn ein Verbraucher eine Information braucht, geht er ins Netz – egal um was sich handelt. 55 Prozent der Recherchen nach Produkten beginnen heute nicht bei Google, sondern auf Amazon. Und wer erst einmal da ist, der wird bei guten Angeboten auch zugreifen. Die Schuhhändler haben lange geglaubt, ihre Branche würde verschont werden, weil ihr Sortiment zu speziell ist. Heute ist das Geschäft zu einem großen Teil ins Netz abgewandert. Bekleidung kann man online nicht anprobieren – und trotzdem ist sie heute die am schnellsten wachsende Kategorie im Versandhandel.
ADHOC: Sie glauben nicht an Kundenkontakt von Angesicht zu Angesicht?
SCHMIDT: Die Zeiten, in denen Kunden vom Verkäufer nett angelächelt werden wollen, sind lange vorbei. Ich will gar nicht negieren, dass die persönliche Beratung gerade bei Medikamenten wichtig ist und auch geschätzt wird. Und damit das klar ist: Es soll auch nicht Hinz und Kunz Arzneimittel verkaufen. Aber es ist für viele Menschen einfach bequem, nicht erst ins Auto steigen und irgendwohin fahren zu müssen. Dem muss man sich stellen. Denn neue digitale Formate wie Videoberatung werden diese Entwicklung erst noch beschleunigen.
ADHOC: Sehen Sie keine strukturellen Probleme des Versandhandels?
SCHMIDT: Versandhandel wird künftig kein Distanzhandel mehr sein. Die großen Internetkonzerne rücken näher. Sie haben erkannt, dass sie ihr Geschäft lokal ausrichten und schnell liefern müssen: Amazon baut einen eigenen Flughafen und Logistikzentren rund um die Metropolen. Wurden noch vor fünf Jahren 10 Prozent der US-Bevölkerung innerhalb von 20 Minuten erreicht, sind es heute 50 Prozent. Und bezogen auf die kaufkräftige Bevölkerung sogar 80 Prozent.
ADHOC: Das bedeutet?
SCHMIDT: Wer eine solche Infrastruktur aufbaut, der denkt nicht in 100 Sortimenten mit 1000 Artikeln – sondern in 100 Millionen Produkten für alle Lebenslagen. Es ist beeindruckend, mit welcher Wucht sich hier von Kategorie zu Kategorie vorgearbeitet wird. Man sollte sich keine Illusionen machen: Sobald der Gesundheitsbereich freigegeben wird, muss Amazon den Schalter nur noch umlegen.
ADHOC: Wo stoßen solche Megakonzerne an Grenzen?
SCHMIDT: Internetriesen fällt es schwer, auf die Spezifika lokaler Märkte zu reagieren. Deshalb verstehen viele US-Konzerne Europa mit seinen vielen nationalen Märkten nicht. Wenn sich ein Geschäft nicht skalieren lässt, ist es nicht attraktiv. Alle Digitalunternehmen funktionieren gleich: Sie suchen sich die Rosinen aus, also Produkte mit starken Margen oder solche, die regelmäßig nachbestellt werden. Dann greifen sie nach dem ganzen Kuchen.
ADHOC: Wie das?
SCHMIDT: Der Fachbegriff ist Plattformökonomie: Amazon macht nicht alles selbst, sondern erzielt die Hälfte seines Umsatzes mit Händlern, die ihre Produkte über die Plattform vertreiben. Das schafft Vielfalt und macht wiederum Amazon unangreifbar. Und das werden künftig verstärkt auch Anbieter vor Ort sein.
ADHOC: Warum sollten Händler dabei mitmachen?
SCHMIDT: Weil man dort sein muss, wo die Kunden sind. Die Hälfte des Onlinehandels in Deutschland wird über Amazon abgewickelt – da muss ich mir überlegen, ob ich oben stehen will und auf Marge verzichte oder nicht. Die Antwort ist eindeutig: Allein in Deutschland ist die Zahl der aufgeschalteten Händler im vergangenen Jahr von 40.000 auf 65.000 gestiegen.
ADHOC: Welchen Versandanteil halten Sie für realistisch?
SCHMIDT: Ausgehend von 15 Prozent ohne Lebensmittel kann man sich leicht ausrechnen, wohin die Reise geht, wenn jedes Jahr 2 bis 3 Prozent hinzu kommen. Und je besser die Logistik, umso größer die Dynamik. Anders ausgedrückt: Es kann kein Zufall sein, dass die vier führenden Plattformen eine größere Börsenkapitalisierung haben als die 30 Dax-Konzerne zusammen.
ADHOC: Wie werden dann die Innenstädte der Zukunft aussehen?
SCHMIDT: Ich glaube nicht, dass es eine Verödung geben wird. Das wurde ja auch schon mit dem Aufkommen der Einkaufszentren auf der grünen Wiese herauf beschworen. Außerdem wird es Mischformen geben – Showrooms etwa, in denen die Versandhändler die Produkte präsentieren, die dann vom Logistikzentrum direkt nach Hause geliefert werden.
ADHOC: Was bedeuten Ihre Szenarien für die Gesellschaft?
SCHMIDT: Mit jeder Transaktion, die über eine Plattform wie Amazon, Uber oder Airbnb abgewickelt wird, verlieren wir ein Stück Wohlstand in Deutschland. Das hat noch keine bedrohlichen Ausmaße angenommen, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht noch mehr Branchen verlieren. Dass das klar ist: Ich bin nicht für Abschottung. Aber wir müssen im Netz aktiver werden. Die Automobilindustrie zeigt gerade, dass sie die Warnschüsse gehört hat. Hier kann sich die Gesundheitsbranche ein Beispiel nehmen.
ADHOC: Welche Chancen hat man dabei als Apotheke?
SCHMIDT: Es muss ja nicht jeder das Rad neu erfinden. Die gesamte Branche sollte sich gemeinsam vorbereiten. Wenn man auf der Website seiner Apotheke außer Öffnungszeiten und Adresse nichts findet, sucht man eben bei Google nach Informationen zu seinen Arzneimitteln. Das könnten Ärzte und Apotheker aber mit Sicherheit besser. Wer den Kontakt im Netz hat, der hat den Kunden. Wenn wir das Silicon Valley kapieren, nicht kopieren, dann können wir auch gewinnen.
Schmidt ist Keynote-Speaker bei VISION.A, der Digitalkonferenz von APOTHEKE ADHOC und Apotheken Umschau am 22. März in Berlin. Die Veranstaltung mit dem Who's Who der Apotheken- und Pharmabranche widmet sich dem digitalen Wandel in Pharma & Apotheke. Rund 450 Gäste werden im RADIALSYSTEM V erwartet. Weitere Informationen und Tickets: vision.apotheke-adhoc.de
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