Die Verschwendung ist enorm: Jährlich landen laut Schätzungen mehr als fünf Milliarden Euro in deutschen Mülleimern, weil Medikamente entsorgt werden. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Zu große Packungen wurden verschrieben oder Behandlungen aufgrund von Genesung oder Nebenwirkungen vorzeitig abgebrochen. Das Upcycling von Wirkstoffen könnte in Zukunft eine Lösung sein.
„Jährlich werden große Mengen an Altmedikamenten über den Hausmüll entsorgt und dann verbrannt. Die enthaltenen Arzneistoffe sind jedoch wertvolle Chemikalien und haben großes wirtschaftliches Potenzial, das in Deutschland bisher nicht ausgeschöpft wurde“, so der deutsche Wissenschaftler Markus Heinrich. An der Universität Erlangen-Nürnberg beschäftigt er sich mit dem Thema, wie aus Altmedikamenten die Wirkstoffe rückgewonnen werden können.
„Unsere Arbeitsgruppe ist in der pharmazeutischen Chemie angesiedelt, sprich wir entwickeln neue Wirkstoffe“, so der Experte. In der Wirkstoffforschung gehe man dabei häufig von bekannten Medikamenten aus. „In einem ehemaligen Projekt hätten wir ein sehr teures Medikament für Forschungszwecke gebraucht. Anstatt es über einen Chemikalienhändler oder in der Apotheke zu kaufen, ist der Gedanke entstanden, wir könnten ja abgelaufene Medikamente einsammeln und damit forschen“, erklärt Heinrich in einem Interview der Wiener Zeitung.
Das Einsammeln war ein großer Erfolg: „Wir haben dafür bisher sehr viel positive Resonanz erhalten“, so Heinrich. „Nach einer Probephase mit mehreren ausgewählten Apotheken haben wir uns entschlossen, einen Sammel-Container vor dem Universitätsgebäude aufzustellen, über den die ortsansässigen Apotheken ihre Altarzneimittel bei uns abgeben können“, so der Experte. Das Projekt wurde so gut angenommen, dass das Einzugsgebiet mittlerweile ausgeweitet werden konnte: „Etwa 300.000 Menschen haben nun die Möglichkeit, Altmedikamente an bestimmten Sammelstellen abzugeben und diese somit der Forschung zur Verfügung zu stellen“, freut sich Heinrich.
Um aus den gesammelten Altmedikamenten Wirkstoffe rückgewinnen zu können, sortiere man zunächst und entferne dann die Umkartons: „Anschließend trennen wir im Labor die in den Tabletten oder Kapseln enthaltenen Hilfsstoffe ab und gewinnen so den Wirkstoff zurück“, so Heinrich. Da es bisher noch kein allgemeines Verfahren gebe, weil das Vorgehen für jeden Wirkstoff anders sei, arbeite man ständig an der jeweiligen Optimierung, so der Forscher.
Die Forschungsgruppe schaut auf eine positive Bilanz zurück: „Im Jahr 2022 waren von vier Tonnen gesammelten Altarzneimitteln etwa 50 Prozent für unsere Forschungsarbeiten nutzbar.“ Mehr noch: „Über die Sammlung stehen uns grundsätzlich etwa 500 verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung, wobei wir mittlerweile mehr als 200 Wirkstoffe hinsichtlich ihrer Rückgewinnung untersucht haben. Durch die stetig wachsende Zahl und Menge zurückgewonnener Wirkstoffe können wir neben unserer eigenen Universität nun auch andere deutsche Forschungseinrichtungen beliefern“, so Heinrich.
Unbedingt zu beachten seien aber die rechtlichen Bestimmungen. Denn: „In Deutschland ist es verboten, ein Altarzneimittel ein zweites Mal für den Menschen oder das Tier einzusetzen. Durch die Rückgewinnung der Wirkstoffe kommt man jedoch zurück auf die Stufe der Rohstoffe. Diese können als Forschungschemikalien oder auch in der Lehre eingesetzt werden, wobei eine Anwendung an Menschen oder Tieren aber weiterhin ausgeschlossen bleibt“, so Heinrich.
Auch das von den Wirkstoffen ausgehende Gefährdungspotenzial stelle eine Herausforderung dar: „Bei Sammelstellen und -containern muss somit sichergestellt sein, dass niemand anderer Zugang zu den gesammelten Altmedikamenten bekommt. Deshalb kann man Altmedikamente nicht wie Altglas sammeln“, so der Experte. Denke man an die Rückgewinnung im größeren Stil, so könne auch mit Pharmaunternehmen kooperiert werden: „Die Rückgewinnungsverfahren kann man auch auf industrielle Fehlchargen anwenden, wobei dann große Mengen ohne vorherige Sortierung zur Verfügung stehen. Daran zeigen Pharmafirmen Interesse, und wir haben bereits erste Kooperationsprojekte begonnen“, so Heinrich.
In den Industriekooperationen sei man erst noch bei der Optimierung der Verfahren: „Wobei wir für drei Wirkstoffe, darunter das bekannte Ibuprofen, hinsichtlich der Reinheit schon das Weltmarktniveau erreicht haben“, freut sich Heinrich. Der nächste Schritt sei eine Optimierung im industriellen Maßstab, die nur beim Industriepartner erfolgen kann. „Um das Verfahren dann tatsächlich anwenden zu können, sind eine Anmeldung und eine entsprechende Freigabe durch die zuständigen Behörden erforderlich.“
Wann das erste nachhaltige Arzneimittel auf den Markt kommt, bleibt offen: „Für ein Medikament, das auf der vorherigen Rückgewinnung des enthaltenen Wirkstoffs basiert, ist das schwer zu sagen. Neben wirtschaftlichen Faktoren spielt dabei auch die Freigabe durch die Behörden eine Rolle und gegebenenfalls auch eine mögliche Krisensituation im Sinn eines dramatischen Versorgungsengpasses.“, so der Forscher.
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